T. David u.a. (Hrsg.): Ursachen, Deutungen und Folgen

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Titel
Krisen – Crises. Ursachen, Deutungen und Folgen Causes, interprétations et conséquences


Herausgeber
David, Thomad; Jon, Mathieu; Janick, Marina Schaufelbuehl; Tobias, Straumann
Reihe
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte – Annuaire Suisse d’histoire économique et sociale 27
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Roman Wild, Universität Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Krisen haben Konjunktur und besitzen Aktivierungspotential. Jüngst war dies zu beobachten, als Verwerfungen auf dem amerikanischen Immobilienmarkt auftraten und auf den globalen Banken- und Finanzmarkt übergriffen. Die dramatische Häufung fallierender Finanzinstitute und überschuldeter Haushalte liess Regierungen und supranationale Organisationen gigantische Rettungspakete schnüren und regte die Medien zu alarmierenden Schlagzeilen an. Die Gesellschaft für die deutsche Sprache kürte die «Finanzkrise» gar zum Wort des Jahres 2008. Unter diesem gegenwärtigen Eindruck interessiert sich die Geschichtswissenschaft verstärkt für historische Momente, in denen sozioökonomische Strukturen in Bewegung gerieten, die Verletzlichkeit gesellschaftlicher Ordnung sichtbar wurde und sich fundamentale Unsicherheit hinsichtlich komplexer Ursachengefüge und Bewältigungsstrategien breitmachte. Und in denen jeweils, so darf nicht vergessen werden, wirksame Arrangements für die Zukunft getroffen wurden. In kurzer Zeit legten HistorikerInnen Untersuchungen vor, in denen Krisen beispielsweise aus kulturhistorischer Perspektive analysiert wurden. 1 Krisen haben auch die Schweizerische Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aktiviert: Sie hat AutorInnen laufender oder unlängst abgeschlossener Forschungsprojekte aus der Schweiz zu einer Jahrestagung geladen und deren Beiträge in Form eines Jahrbuchs publiziert. Die HerausgeberInnen Thomas David, Jon Mathieu, Janick Marina Schaufelbuehl und Tobias Straumann wollen, wie sie in der Einleitung betonen, «die Vergangenheit erhellen, um die Gegenwart besser zu verstehen» (S. 10). Der in den Medien dominierenden Engführung auf die Finanzkrise stellen sie eine Vielzahl und Vielfalt von Krisentypen gegenüber, die vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart reichen. Die zentrale Erkenntnis des Jahrbuchs lautet, dass Krisen in der Vergangenheit vor Grenzen zwar nicht haltgemacht haben, die Folgen entsprechend den «wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen auf nationaler und regionaler Ebene» aber unterschiedlich ausfielen und bewältigt wurden (S. 17). Die langfristige Perspektive widerlegt die gängige These, wonach Krisen allein ein Merkmal der westlichen Moderne darstellen.

Nachfolgend seien die fünfzehn Beiträge des Jahrbuchs in Stichworten wiedergegeben: Für den ersten Teil («Theoretische Perspektiven») konnte mit Hansjörg Siegenthaler ein ausgewiesener Krisen-Spezialist gewonnen werden, der seine in zahlreichen Studien zum diskontinuierlichen sozioökonomischem Wandel entwickelten Überlegungen im Begriff des «Regelvertrauens» verdichtet. Den zweiten Teil («Krisen in der Vormoderne») eröffnet Oliver Wetter, indem er eine 743 Jahre umfassende Zeitreihe zum Rheinhochwasser konstruiert und Überlegungen zu historischen Lerneffekten anstellt. Den Konnex von Witterung und Versorgungskrisen in den burgundischen Niederlanden des 15. Jahrhunderts macht Chantal Camenisch zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Monika Gisler bietet einen Literaturbericht zur langwierigen und die Frage der Effizienz von Märkten tangierende Forschungsdebatte um die niederländische «Tulpenmanie» in den 1630er Jahren. Luca Mocarelli widmet sich in seinem Beitrag den Subsistenzkrisen des 18. Jahrhunderts, in deren Verlauf sich Mailand als erklärungsbedürftig resistent erwies. Den dritten Teil («Krisen und Staat») eröffnet Daniel Krämer, indem er binnenschweizerische Unterschiede von Mangelernährung in aufwendigen Visualisierungen herausarbeitet, die 1816/1817 infolge eines Vulkanausbruchs in Indonesien auftraten. Juri Auderset und Peter Moser reflektieren die körperlich erfahrene Ernährungskrise im Ersten Weltkrieg und spüren den von den Akteuren in der Zwischenkriegszeit entwickelten agrarpolitischen Bewältigungsstrategien nach. Sébastien Guex wartet mit einem knappen Abriss über die schweizerische Konjunkturpolitik im 20. Jahrhundert auf und diskutiert Gründe, warum sich die Exekutive für keynesianische Interventionen kaum empfänglich zeigte. Am Beispiel der Stadt Genf zeichnen Gérard Duc und Olivier Perroux Verschränkungen von Energie- und Wirtschaftskrisen über die letzten 140 Jahre nach. Philipp Müller arbeitet die Deutungen, Interessen und Konsequenzen der Währungs-, Finanz- Wirtschafts- und Sozialpolitik heraus, mit welchen die schweizerische Eidgenossenschaft der Weltwirtschaftskrise beizukommen suchte. Der für die Erdölkrise von 1973 geläufigen These einer Angebotsverknappung erteilt Daniele Ganser eine Abfuhr, regt dafür eine Verbindung zum Ende des Bretton Woods-Systems an. Den Auftakt in den vierten Teil («Krisen und Gesellschaft») macht Sandro Guzzi-Heeb mit einer mikrohistorischen Untersuchung zu den Beziehungen zwischen Sexualität und Krise im Val de Bagnes im 19. Jahrhundert. Drew Keeling nimmt die US-amerikanische Finanzkrise von 1907/1908 zum Ausgangspunkt, um die von der Forschung vernachlässigte Rückwanderung von Arbeitskräften nach Europa zu beleuchten. Dass die 1930er Jahre in Europa zu einer konfliktiven Neudefinition von Männer- und Frauenarbeit genutzt wurden, zeigt Céline Schoeni auf eindrückliche Weise. Im abschliessenden Teil («Unternehmenskrisen») schreibt Pierre-Yves Donzé gegen die Deutung der in den 1970er und 1980er Jahren währenden «Uhrenkrise» als einer Innovationskrise an. Seine überzeugende Neubewertung stellt primär auf den Vergleich der organisatorischen Produktionssysteme in der Schweiz und in Japan ab.

Festzuhalten bleibt, dass die Beiträge unterschiedlichste Akzente setzen und in ihrer Qualität variieren. Entgegen der Ankündigung im Vorwort stellen nur die wenigsten AutorInnen einen expliziten Bezug zur Gegenwart her. Weniger die Überschriften als der von den HerausgeberInnen im Untertitel genannte Analyseraster, demzufolge Krisen nach Ursachen, Deutungen und Folgen systematisiert werden können, vermag die heterogenen Fallbeispiele zu ordnen und aufeinander zu beziehen. Kritik ist daran zu üben, dass in einigen Beiträgen die Offenlegung des verwendeten Krisen-Begriffs – besonders die Abgrenzung zur Katastrophe – unterbleibt. Zugegeben: Ein übergeordneter, allgemein anerkannter und theoretisch fundierter Krisen-Begriff ist nicht in Sicht. Die Chance, die analytischen Stärken respektive Schwächen spezifischer Krisen-Begriffe empirisch zu testen und die Anschlussfähigkeit an die internationale Forschung sicherzustellen, wurde in einigen Beiträgen allerdings vergeben. Dazu kommt, dass die beiden eingangs zitierten kulturhistorischen Untersuchungen materialreich nahelegen, dass Krisen immer auch kulturelle Konstrukte sind: Das Reden und Schreiben über Krisen gilt es als Wahrnehmungsphänomen und narratives Muster zu problematisieren. Ansonsten droht die vorschnelle Übernahme von zeitgenössischen Krisen-Deutungen aus den Quellen und von analytischen Krisen-Zuschreibungen aus der Forschung mehr zuzuschütten, als sie aufzudecken vermag. Ungeachtet dieser Kritik ist als Verdienst des Jahrbuchs hervorzuheben, dass es eine breitgefächerte Bestandsaufnahme historischer Krisenphänomene und Anregungen für eine vergleichend angelegte Krisenforschung bietet. Zu wünschen bleibt, dass sich das Krisen innewohnende Aktivierungspotential auch in entgegengesetzter Richtung entfaltet. Oder anders formuliert, dass – im Sinne der HerausgeberInnen – Wissen um Krisen der Vergangenheit die Akteure der Gegenwart zu informieren vermag.

1 Thomas Mergel (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt a.M. 2012 (Eigene und fremde Welten, Bd. 21); Carla Meyer, Katja Patzel-Mattern, Gerrit Jasper Schenk (Hg.), Krisengeschichte(n). «Krise» als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, 210).

Zitierweise:
Roman Wild: Rezension zu: Thomas David, Jon Mathieu, Janick Marina Schaufelbuehl, Tobias Straumann (Hg./éd.), Krisen. Ursachen, Deutungen und Folgen – Crises. Causes, interprétations et conséquences, Zürich: Chronos Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 352-354.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 352-354.

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